Das war die Jahrestagung der ArgeAss in Wien
Körper sind in der Bibel eine Art Projektionsfläche, mit deren Hilfe ganz verschiedene Anliegen transportiert werden können: Sie können als defizitär oder als vollkommen gezeichnet werden; Heilungserzählungen beschreiben dann häufig den Übergang von diesem Zustand in jenen und setzen automatisch voraus, dass „Heilung“ ein erwünschter Zustand ist. Aber ist das wirklich so? Und sind solche Erzählungen heute noch zeitgemäß, nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines veränderten Verständnisses von Behinderung? Fragen wie diesen ist die diesjährige Jahrestagung der ArgeAss nachgegangen, die vom 26. bis 28. September in hybrider Form in Wien stattgefunden hat.
Neue Sinnspitzen in den Wundererzählungen des Markusevangeliums
Markus Tiwald (Wien) las in seinem einführenden Vortrag („Von gesunden Kranken und kranken Gesunden … Rochierende Rollen im Markusevangelium“) ausgewählte Wundererzählungen des Markusevangeliums vor dem Hintergrund gemeinantiker Wundererzählungen. Er stellt fest, dass Markus das klassische Repertoire der Wundermotivik zuweilen so umgestaltet, dass die Wunderhandlung und die Konstatierung des Heilungserfolges aus dem Zentrum der Erzählung verschwinden. Die neue Sinnspitze liegt dann beispielsweise im Dialog zwischen Jesus und der Figur, die die Heilung erfährt, etwa der blutflüssigen Frau aus Mk 5,21–43. Im Dialog rückt nun aber der Glaube der Frau ins Zentrum und Jesus spricht ihr Frieden zu. Markus nimmt, so Tiwald, gewissermaßen ein „Upgrade“ einer volkstümlichen Wundererzählung vor. Die Frau wird nach dieser Lesart „zu einer Gestalt vorbildlichen Glaubens“. Markus erzählt damit keine körperlichen Wundergeschichten, sondern Annahmegeschichten, die auf Glauben, Frieden und soziale Integration abzielen. Ganz grundsätzlich plädiert Tiwald dafür, die vermeintlich defizitären Figuren der Wundererzählungen in therapeutischer Diktion als Symptomträger zu verstehen, die für die Defizite eines sozialen Systems stehen.
Jes 35,3–6 als „Normalisierungsvision“
Sarah Döbler (Marburg) setzte sich in ihrem Vortrag „Auf dem Weg in eine ‚normbegabte‘ Zukunft. Jes 35 und das medizinische Modell von Behinderung“ mit den problematischen Implikationen des auf den ersten Blick heilvollen Bildes aus Jes 35,3–6 auseinander. Sie zeigt, wie die disability studies als Analyseinstrument für eine diversitätssensible Auslegung biblischer Texte dienen können. Problematisch sei bei Jesaja vor allem das medizinische Verständnis von Behinderung, das ein defizitäres Modell des Menschen voraussetze und eine „Normalisierungsvision“ formuliere. Erst die Heilung biete einen Grund zur Freude und sei die „Zugangsberechtigung“ zum heiligen Weg und zum Zion. Die körperliche Beeinträchtigung diene als „narrative Prothese“, um den Weg von einem negativen Ist- zu einem positiven Soll-Zustand verständlich zu machen. Döbler plädiert dafür, auch andere Texte der Bibel wahrzunehmen, die eine solche Zustandsveränderung nicht beim Menschen selbst voraussetzen, sondern in der Lebenswelt. Es sind dann Texte wie Jes 49,11, die diese Idee formulieren: „Alle meine Berge mache ich zu Wegen / und meine Straßen werden gebahnt sein.“
Erzählte Körper und lesende Körper – drei Leitperspektiven
Diese exemplarisch ausgewählten Vorträge machen die Leitperspektiven deutlich, die die Tagung bestimmten. Zum einen: Wie werden Körper in den biblischen Texten beschrieben und welche Funktion haben erzählte Körper? Zum anderen: Mit welchem Körper lesen wir die Körpertexte der Bibel? Welche Anfragen an unsere eigenen Körper werden durch die im Text propagierten Körpernormen implizit oder explizit formuliert? Und als dritte, übergeordnete Perspektive: Wie lassen sich offensichtlich problematische biblische Texte diversitätssensibler lesen, also in dem Bewusstsein, dass Menschen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen mit ihnen konfrontiert sind?
Ingrid Mohr hat die Teilnehmenden unmittelbar am Beginn der Tagung auf diese für einige Exeget:innen neuen Perspektiven eingestimmt, indem sie der Gruppe die Methode des Bibliologs in einer Workshop-Einheit selbst hat erleben lassen. Dabei ging es darum, wie man als Leser:in die Leerstellen der Heilungserzählung Mk 2,1–12 kreativ füllen und so als ganze Person in die Welt des Textes eintauchen kann.
Viele der weiteren Vorträge, die das Thema aus alt- und neutestamentlicher Perspektive erschlossen haben, kreisten um die Frage, wer Macht über Körper hat und körperliche Vorgänge kontrolliert.
Soziale Kontrolle und Macht über Körper
Janina Skora ging in ihrem Beitrag über „Körperflüssigkeiten und Körperöffnungen“ dem Phänomen der „Kontrolle als Voraussetzung für eine gelungene Gottesbeziehung und cultic ability“ nach. Während gewisse Körpervorgänge, die mit Unreinheit verbunden werden, von einem Kontrollverlust über den eigenen Körper zeugten, zeigen die Kapitel Lev 12–15, dass hier durch priesterliches Handeln Kontrolle wiederhergestellt werden könne, und zwar nicht nur biologisch, sondern auch sozial.
Pieter van der Zwan (Pretoria/Wien) widmete sich mit einem psychoanalytischen und machtkritischen Ansatz dem Ijobbuch. In seinem Vortrag „Politischer Körper und Body Politics im Buch Ijob“ las er die Krankheit des Ijob als eine Form der Behinderung, an der Ijob aber nur aufgrund der gesellschaftlichen Ächtung und Verspottung leide. Van der Zwan interpretiert den Konflikt der Ijoberzählung als „Körperkampf“, in dem auch Gott Partei ergreift und Ijob letztlich zur Befreiung verhilft.
Den „Eunuchen für das Himmelreich“, von denen in Mt 19,10–12 die Rede ist, hat sich Josef Pichler (Graz) gewidmet. Neben den Eunuchen, die von Geburt an Eunuchen sind, und denen, die von Menschen dazu gemacht wurden, kennt der Matthäustext auch die „Eunuchen für das Himmelreich“. Während der Text häufig zur Begründung des Zölibats, als Grund für die Unauflöslichkeit der Ehe oder als Grund für das Verbot der Wiederheirat herangezogen werde, betrachtet Pichler solche Ansätze auch vor dem Hintergrund der antiken Sozialgeschichte als Engführung. Eunuchen seien vielmehr Aussteiger aus den klassischen gesellschaftlichen Mustern, indem sie etwa das binäre Geschlechtermodell durchbrächen. Die kühne Eunuchenmetapher, die der Jesus des Matthäusevangeliums einspielt, diene vielmehr dazu, die neue Ordnung im Reich Gottes deutlich zu machen. Die Eunuchen sind dann als Gegendiskurs zu einer durch und durch androzentrischen Sicht der Welt zu verstehen.
Eine diversitätssensible Lektüre von Mk 1,40–45 unternahm Milena Heussler (Wien) in ihrem Vortrag über „Bebendes Mitleid, schnaubender Zorn? Ambivalenz von Emotionen in der Konstruktion von Behinderung anhand von Mk 1,40–45“. Dabei verbindet sie die Perspektive der disability studies mit einem Blick auf die erzählten Emotionen. Heussler liest die Aktion des Aussätzigen als ex-centric entering, als ein Kommen aus der Peripherie. Er rückt sich damit selbst vom Rand ins Zentrum. Jesus wird in dieser Perspektive zum Herausgeforderten.
Gefährdete Körper
Matthias Schmidt (Gießen) nimmt den hochgradig gefährdeten Körper aus Lk 11,24–26 in den Blick. In seinem Beitrag „Wenn Jesus nicht heilt, kann die Welt heilen: Überlegungen zur vorlukanischen Logientradition in Lk 11,24–26“ geht er davon aus, Jesus habe zumindest manchmal von Dämonenaustreibungen abgeraten. Der Text lässt sich als Begründung dafür lesen, dass das zumeist positiv Konnotierte, nämlich der Exorzismus, zuweilen Negativeres, nämlich mehr Dämonen als vorher, mit sich bringen könne. Die Sinnspitze des Textes wäre dann das Plädoyer an die Gesellschaft, mit einem gewissen Grad von Besessenheit zu leben und nicht immer nach einem Exorzismus zu verlangen.
Markierte Körper
Das Gegenüber zweier Formen der Körpermarkierung in der Offenbarung des Johannes, nämlich dem Siegel in Offb 7,1–8 und dem Kennzeichen in Offb 13,16–18, liest Michael Hölscher (Mainz) in seinem Beitrag „Auf die Stirn gedrückt. Die Versiegelung der 144.000 in Offb 7 und das Schreibkonzept des Defixionsrituals“ vor dem Hintergrund antiker Fluchtafeln (defixiones) und Amulette, zu denen für ihn auch die siegelartigen magischen Gemmen zählen. So wie Offb 7 und 13 zwar unterschiedliche Vorgänge beschreiben (Stempeln und Markieren), so setzen sie doch beide die Markierung mit einem Namen voraus. Dieser Zug des Textes lässt sich mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund von Fluchtafeln und Amuletten bzw. Gemmen plausibilisieren, die trotz unterschiedlicher Vorgänge des Beschriftens beide auf die gleichen Zeichen zurückgreifen.
Der Körper als Projektionsfläche für das Gottesverhältnis
Einen idealisierten Körper stellt Maximilian Häberlein (Würzburg) vor. Sein Beitrag über „(Ideale) Körper und Gottesbeziehung im Asenethroman“ behandelt insbesondere die Körperdarstellung der Figur der Aseneth, die sich durch die Konversion und damit Hinwendung zum Gott Israels verändert. Aseneth sei zwar auch vorher schon schön, doch werde ihre Schönheit später besonders akzentuiert. Damit erscheint in der Perspektive des Asenethromans nur die Person als schön, die dem Gott Israels folgt.
Die Tagung hat insgesamt auch gezeigt, dass Körpererfahrungen eine wichtige Brücke sein können: Manche Texte irritieren gerade deshalb, weil ihr Gegenstand, der menschliche Körper, zeit- und kulturraumübergreifend auch den Horizont der heutigen Leser:innen bestimmt. Die Körpertexte der Bibel betreffen uns als körperliche Wesen immer auch selbst ganz unmittelbar.
Die Teilnehmenden der Tagung hatten darüber hinaus auch die Möglichkeit, ihren Blick auf Körper mit einer Führung im Kunsthistorischen Museum insofern zu weiten, als er weg von den Texten und hin zu Malerei und Plastik führte. Der Ausflug ins Österreichische Katholische Bibelwerk (ÖKB) und eine Vorstellung des Programms haben zudem gezeigt, wie man „biblische Schmankerln“ auch körperlich und genussvoll erleben kann, indem man sie sich einverleibt (Bibel-Salon) oder in der Stadt selbst auf eine biblische Entdeckungsreise geht (Bibel-Pfad).
Ein großer Dank gilt den Organisator:innen der Tagung, namentlich Benedikt Collinet, Milena Heussler, Antonia Krainer, Magdalena Lass, Hanna-Maria Mehring und Eva Puschautz, die nicht nur die inhaltliche Planung übernommen, sondern auch für die Pausengestaltung und einen reibungslosen technischen Ablauf gesorgt haben. Für die Führung und den Empfang in den Räumen des Bibelwerks sei Elisabeth Birnbaum als Direktorin des ÖKB ganz herzlich gedankt.
Die nächste Jahrestagung der ArgeAss findet vom 25.–27. September 2023 in Innsbruck statt. Das Thema im kommenden Jahr ist „Krieg und Frieden“.